Wenn die Welt zu groß ist


 

Im September 1957 bin ich als letztes Kind in eine bestehende Familie mit Vater, Mutter und vier älteren Geschwistern hineingeboren. Wir lebten in einem kleinen Einfamilienhaus am grünen Stadtrand von Oldenburg. Bereits als Kind fühlte ich mich oft überfordert und überwältigt von den Dingen, die um mich herum geschahen. Ich war dem chaotischen Ansturm an wechselhaften Stimmungen in meinem Elternhaus - die in meiner Erinnerung zwischen langen Schweigephasen und Ausbruch von Wut, Gewalt und Streit wechselten - oft nicht gewachsen. Stets spürte ich unterschwellig eine Athmosphäre von Stress, Bedrohung und möglicher Kritik und Ablehnung.

Auf den als Kind erfahrenen Dauerstress reagierte ich lange mit einer Mischung aus Angst, Weglaufen, Angriff, Überanpassung bis hin zur Depression und Erstarrung. Es waren Bewältigungsformen, die mir halfen, im Stress zu überleben. Heute weiss ich, dass ich bereits in dieser Zeit mit einer ständigen depressiven Grundstimmung, einer sogenannten Dysthymia, zu kämpfen hatte.

Auch in späteren Zeiten blieb die Welt, besser gesagt der Mensch in ihr, bedrohlich für mich. Unterschwellig begleitete mich stets eine soziale Angst, die sich in Furcht vor kritischer Beurteilung, Verurteilung und letztlich möglicher Ablehnung äußerte.Als Jugendliche und junge Erwachsene konnte ich Stress und (Ablehnungs-)Schmerz, den ich erfahren und empfunden habe, oftmals nicht gesund und konstruktiv bewältigen. Mir fehlten die Ressourcen dafür, die Anleitung und das Training. Mit den Jahren erwiesen sich die erlernten Reaktions- und Bewältigungsformen wie Flucht bis hin zu Todessehnsucht,  Angriff oder Überanpassung in vielen Situationen als hinderlich und ich war herausgefordert, erwachsenere und angemessenere Formen zu finden, um mit Alltagsherausforderungen, zwischenmenschlichen Konflikten, Erschöpfung und Schmerz umzugehen.

 

Leben und Glauben verbinden

Mit 36 Jahren, während meines Urlaubs 1994 in der Schweiz lernte ich Christen kennen, deren Leben sich durch ihren Glauben an Jesus Christus positiv verändert hatte. Lebensgeschichten aus der Hausbibliothek machten mich weiter neugierig: sollte der Glaube wirklich etwas Gutes und Tröstendes für meine Seele sein, hilft mir das Gottvertrauen konkret in meinem normalen Lebensalltag und in Lebenskrisen? Das war neu für mich. Ich hielt den christlichen Glauben eher für eine zusätzliche Last, überwiegend mit Pflichten versehen, Gott war fern und teilnahmslos. Im Oktober des gleichen Jahres stieß ich beim Stöbern in meiner Lutherbibel auf folgendes Angebot von Jesus:

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht (Matthäus 11,28-30)

Das hat mich sehr überrascht. Seine Last ist leicht? Da ich mich sehr belastet und müde vom Lastentragen fühlte, war ich sehr neugierig und nun nur zu gerne bereit, das entlastende Angebot anzunehmen. Seit dieser Zeit durfte ich einen ganz anderen Gott erfahren: er ist mitten in meinem Lebensalltag und heilt meine Seele von alten Wunden. Er ist interessiert, anteilnehmend, nah und setzt sich aktiv für mich ein. Der Glaube an Jesus Christus steht nicht abstrakt neben meinem "sonstigen" Leben. Im Gegenteil, er und seine bedingungslose Liebe sind mittendrin und machen mein Leben erst zu einem erfüllten Leben und Abenteuer. Über viele Jahre durfte mein Gottvertrauen wachsen und ich durfte und darf lernen, meine alltäglichen Herausforderungen und Belastungen "auf Jesus zu werfen" (1.Petrus 5,7) und gemeinsam mit ihm zu bewältigen.

Wie ich erfahren habe, ist der christliche Glaube auch keine Krücke oder Ausrede, um sich vor dem Erwachsensein und den vielfältigen Lebensherausforderungen drücken zu können. Im Gegenteil, mit wachsendem Glauben führt Gott mich mitten hinein in das Thema Erwachsensein - Erwachsenwerden und nimmt mir nicht die Verantwortung für meine Lebensentscheidungen. Er machte mich zu einer erwachsenen Lebensgärtnerin (eLG) mit einem Bild von Erwachsensein, das sich von dem gesellschaftichen Bild des starken Erwachsenen früherer Zeiten unterscheidet. (Mehr zum Bild des starken Erwachsenen finden Sie in meinem Online-Handbuch Leben & Reife - Ein Ermutigungskonzept in komplexer Welt)

 

leben und reifen

Mit Gottes Hilfe durfte und darf ich lernen, meine alten Bewältigungs- und Reaktionsmuster - die nicht selten krankmachende depressive Teufelskreisläufe mit sich brachten - zu hinterfragen und neue Formen im zwischenmenschlichen Miteinander zu erlernen. Und immer wieder ist dabei der Vers aus Jesaja 41,10 Trost und Ermutigung für mich in bedrohlich empfundenen Situationen:

"Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit".

Ich bin in einem Reifeprozess, der immer wieder angefochten ist und an manchen Tagen fühle ich, wie die alten Kindheitsängste mich wieder einholen bzw. aktuelle Lebenssituationen mich zu überwältigen drohen. Aber ich weiss und fühle gleichzeitig: Gott als starke Ressource ist immer bei mir und er liebt und unterstützt mich in den starken und schwachen Tagen. Er stellt mir Freunde und Menschen zur Seite und punktuell auch professionelle Hilfe, um die Angst vor Kritik und Ablehnung abzubauen, bzw. im guten Sinne damit umzugehen. So ermutigt er mich, mich dieser Angst nicht zu schämen und im Umgang mit der Angst und den Folgen, die sich dadurch für mein Leben ergeben haben, liebevoll und geduldig mit mir zu sein.

Ich weiss heute, dass u.a. diese Angst einer Verwirklichung mancher Lebenswünsche im Weg stand. Bedingt durch die soziale Angst habe ich vieles getan, um Anerkennung und Liebe zu bekommen, bzw vieles unterlassen, um keine Kritik und Ablehnung zu ernten.Diese Erkenntnis ist manchmal noch schmerzhaft. Andererseits hilft sie mir heute, gnädiger und entspannter mit mir umzugehen und meine Biografie anzunehmen.

Die langjährige Erfahrung, von der wichtigsten Person des Universums bedingungslos angenommen zu werden - mit all meinen Fehlentscheidungen, Unzulänglichkeiten, aber auch mit meinen Stärken - ließ die Angst vor Menschen und meine "große Welt" zunehmend kleiner werden. Ich freue mich an Erreichtem und kann mit der Aussicht auf eine sehr gute Zukunft, das irdisch Unvollkommene und auch das Fragmentarischgebliebene zunehmend würdigen. Mit dem weisen und allmächtigen Gott bin ich dieser "großen Welt" gewachsen und gestalte sie mit. 

Diese wertvollen Erfahrungen leiten mich bis heute an, Ratsuchende und Interessierte durch Beratung, Literatur und Vorträge zu ermutigen, ihre seelischen Belastungen als wertvolle Signale für den nächsten Lern- und Reifeschritt ernstzunehmen, sich für neue Erfahrungen zu öffnen und (Alltags-)leben und Glauben zu verbinden.

 

Mehr zu meiner Lebensgeschichte finden Sie in meinem Buch Sehnsucht nach Liebe; Mein Weg aus der Beziehungssucht und in dem Fernsehbeitrag vom ERF: Beziehungs-Kisten